Ghost of Yōtei REVIEW
Der Sommer 2020 war aus Sicht von Sony und seiner First-Party-Spiele ein bemerkenswerter. Verzückte und erboste man Fachpresse und Spielerinnen und Spieler im Juni mit The Last of Us Part II, hatte man wenige Wochen später mit Ghost of Tsushima den nächsten großen Titel an den Start gerollt. Was noch vor der Veröffentlichung in der gefühlten Wahrnehmung kaum jemanden so richtig interessiert hatte, hat sich in den folgenden Wochen und Monaten als eines der erfolgreichsten Spiele der PS4-Generation gemausert. Laut offiziellen Verkaufszahlen haben sich über 13. Millionen Spielerinnen und Spieler über die Jahre gemeinsam mit Jin Sakai an die Verteidigung der titelgebenden Insel gemacht und dabei ein sowohl technisch als auch inhaltlich und spielmechanisch spannendes Abenteuer erlebt. Einige Zeit später folgte noch eine Erweiterung sowie eine angepasste Version für die PlayStation 5 und die unweigerliche Frage: wie geht es mit der neuen Reihe weiter? Erhält Jin ein weiteres Abenteuer, wird Ghost zu einem Franchise und welche historischen Bezüge nimmt man sich als Nächstes vor? Die gefundenen Antworten sind spannend und auch durchaus mutig.
Zeitsprung
Obwohl es die reale Geschichte hergegeben hätte und Jin Sakai bei vielen Spielerinnen und Spielern beliebt ist, hat man sich bei Sucker Punch gegen eine traditionelle Fortsetzung entschieden. Mit der Reihe geht es jetzt aber dennoch weiter. Eine neue Hauptfigur, ein neuer geschichtlicher Kontext und ein neuer Schauplatz treffen in Ghost of Yōtei auf weiterentwickelte Spielmechaniken und eine gewohnt atemberaubende Bild- und Klangkulisse, aber auch Makeln, die ich nach dem famosen Einstand so nicht von der Fortsetzung erwartet hätte.
Die Ereignisse von Ghost of Yōtei finden im Jahr 1603 statt. Für die japanische Geschichtsschreibung ist dieses eines der wichtigsten Daten und markierte unter Tokugawa Ieyasu den Beginn der Edo-Zeit. Damit einher gingen viele gesellschaftliche und politische Umbrüche, unter anderem auch die über 200 Jahre anhaltende Abschattung gegenüber der Welt. Das Spiel greift diese Ereignisse bedingt auf, wer aber ein bisschen firm in der Geschichte ist oder auch einfach nur beim Serien-Hit Shōgun (2024) gut aufgepasst hat, wird einige Namen und Eckdaten sicherlich einordnen können. Die tatsächlichen Ereignisse der Spielhandlung setzen vor dem eigentlichen Plot noch ein paar Jahre früher an. In einer schicksalshaften Nacht wird die Familie von Protagonistin Atsu brutal vom abtrünnigen Fürsten Saitō und dessen Lakaien ermordet. Atsu – noch ein Kind – flieht aus ihrer Heimat in Ezo, dem heutigen Hokkaido, in den Süden. Dort lernt sie das Kämpfen und Töten und sinnt auf Rache. Diese führt sie schließlich zurück nach Norden, wo Saito mittlerweile für Angst und Schrecken sorgt.
Unterhaltung trifft auf Geschichte
Hokkaido bzw. Ezo sind als Schauplatz ungemein spannend, da in Videospielform noch nahezu unverbraucht. Spannend ist der Szenenwechsel auch, da Ezo/Hokkaido in dieser Epoche genaugenommen noch gar nicht zu Japan gehörte. Die nördlichste der vier Hauptinseln war unabhängig und wenig besiedelt. Heimat war das Gebiet vor allem für die Ainu, der indigenen Volksgruppe jener Region, die ab dem Beginn des 17. Jahrhunderts mehr und mehr von aus dem Süden kommenden Japanern verdrängt wurden. Man kann die Geschichte durchaus mit jener der Vereinigten Staaten von Amerika vergleichen. Die Japaner kolonisierten das Gebiet nicht nur, sie verdrängten auch die indigene Bevölkerung, verbaten ihre Sprache, Religion und Kultur und ermordeten in mehreren Konflikten Ainu. Bis heute sind die Verbrechen der Japaner gegen die Ainu wenig aufgearbeitet. Und bis heute finden Ainu in der japanischen Öffentlichkeit kaum statt. Immerhin sind in den vergangenen Jahren die Kultur und Lebensweise der Ainu in Dokumentationen und Spielfilmen aufgegriffen worden, wobei es sich hier meistens um unabhängige Produktionen von Angehörigen der Volksgruppe handelt.
Die Abschätzung gegen das Land und seiner Menschen spiegelt sich auch im Begriff „Ezo“ wider, welcher von Japanern verwendet wurde, um die Ainu und ihr Territorium zu beschreiben. Die Bezeichnung bedeutet so viel wie „barbarisch“ oder „unzivilisiert“. Und eben so wurden das Land und seine Menschen auch behandelt. Wie schon im Vorgänger, so steckt also auch in Ghost of Yōtei historischer Sprengstoff. Vollkommen außer Acht lassen die Entwickler die historischen Umstände und ihre Folgen zwar nicht, die Art und Weise wie man aber mit der Thematik verfährt, ist enttäuschend. Zwar spielen trifft man im Verlauf der Handlung auf Ainu und lässt für kurze Zeit auch in einem ihrer Dörfer nieder. Im Gesamtkontext machen diese Einspeisungen aber einen geringen Teil aus. Und anders als im Vorfeld vermutet, ist Atsu auch gar keine Angehörige der Ainu. Ihre Eltern stammen selbst aus dem Süden und sind mit Atsu und deren Zwillingsbruder in den Norden geflüchtet. Warum, erfährt man im Laufe der Geschichte. Dennoch wäre da mehr drin gewesen, zumal man sich letztlich für eine angesichts der Möglichkeiten, welche das Setting mitbringt, für die eher belanglose Route entschieden hat: nämlich der Rachestory.
Kill Saito
Und diese wird ausgespielt, wie man es aus Filmen, Büchern und anderen fiktiven Werken nun einmal kennt. Man darf von Ghost of Yōtei keine klugen Gedanken zum Thema Rache und den Folgen erwarten. Das ist kein Oldboy, kein The Last of Us Part II, sondern eher Kill Bill. Obwohl ich Atsu als Figur wirklich gerne mag und der Plot durchaus ein paar Höhepunkte hat, so bleibt man letztlich auf bekannten Genre-Pfaden. Abgesehen von ein, zwei Überraschungen im ersten von drei Akten steckt da nicht viel drin was die Geschichte über ein „joa, ist halt nett“ hinaushebt. Und das ist schade, zumal der Vorgänger viel nachhallendere Akzente setzen konnte und tatsächlich auch ein bisschen etwas zu sagen hatte. Wo Jin mit dem ihm seit Kindestagen auferlegten Kodex der Samurai zu hadern hatte, da hat Atsu nur mit ihrer Wut und ihrem Rachedurst zu kämpfen. Jin hat sich als Figur nach und nach entwickelt und wurde komplexer. Atsu erkennt am Ende halt, dass blinde Rache keine Erfüllung bringt.
Wirklich perplex bin ich nach dem Durchspielen wie seltsam mitunter mit der Story verfahren wird. Nicht nur die Haupthandlung, auch die Nebengeschichten wirken diesmal wesentlich belangloser. Ein Beispiel: Ich kann mich nach wie vor an Nebenfiguren und ihre Geschichten aus Ghost of Tsushima erinnern, da viele Handlungsstränge von Nebengeschichten in die Haupthandlung eingezahlt haben. In Ghost of Yōtei ist davon kaum etwas geblieben. Wo im ersten Teil die Nebenfiguren zu Freunden und Kameraden wurden, werden sie hier zu Lehrern und Händlern. Wirklich! Viel mehr ist das Wolf-Pack, wie das Spiel die zentralen Nebenfiguren nennt und sogar in einem Menü auflistet, nicht. Und ab Akt 2 und dem narrativ geradezu hingeschludert wirkenden Akt 3 bricht die Handlung in meiner Wahrnehmung komplett zusammen. Wurde die Zeit knapp? Hatte man kein zu Ende konzipiertes Konzept für die Handlung?
Ich konnte nicht in Erfahrung bringen, woher diese groben Unterschiede herrühren. Denn sowohl das Director-Duo Nate Fox und Jason Connell und Produzent Brian Fleming als auch Lead-Writer Ian Ryan sind in ihrer jeweiligen Rolle wieder an Bord. Lediglich der Stab rund um Writer Ian Ryan wurde komplett getauscht, wobei ich nicht weiß, warum.
Eine Open World zum Verlieben
Kurzum: die Story hat mich ziemlich ernüchtert und bleibt hinter den Möglichkeiten zurück. Für alle anderen Aspekte hingegen könnte ich die Fanfare zücken und ein Loblied anstimmen. Denn spielerisch und technisch ist Ghost of Yōtei stimmig und aktuell eines der Besten seiner Art. Alleine die offene Welt ist zu niederknien. Sucker Punch inszenieren das nördliche Japan in einer visuellen Pracht, wie sie geradezu unerhört ist. In butterweichen 60 Frames reitet man mit dem Pferd durch herrlich grüne Wiesen, sucht mit dem Katana im Anschlag in finsteren Wäldern nach verbrecherischen Ronin, stapft durch dichte Schneestürme und spürt regelrecht die Kälte durch den Bildschirm kriechen, erfreut sich an den herrlich goldroten Blättern der herbstlichen Bäume und bewundert die blühende Sakura in ihrer pinken Pracht. Mit den Jahreszeiten nimmt man es nicht so genau und ballert stattdessen einmal mehr sämtliche visuellen Japan-Klischees auf den Bildschirm. Aber das habe ich schon beim Vorgänger so sehr geliebt und ich liebe es auch hier wieder.
Ich habe das Erkunden von Ezo mindestens so sehr genossen wie damals das Entdecken von Tsushima. Auch, weil es die Entwickler erneut wunderbar verstanden zu haben, das Erkunden der Spielwelt organisch zu verpacken und zu belohnen. Mal folge ich einem knuddeligen Fuchs, welcher mich zu einem kleinen Schrein bringt und anschließend eine Streicheleinheit verpasst bekommt. Mal sehe ich in der Entfernung eine Dampfwolke aufsteigen und folge dieser, nur um Atsu ein warmes Bad in einer heißen Quelle zu gönnen und damit gleichzeitig die maximale Lebensenergie zu erhöhen. Mal stolpere ich über ein Banditenlager und streiche ein Kopfgeld ein, ohne zuvor gewusst zu haben, dass der frisch Geköpfte und seine Bande gesucht wurden. Und immer wieder zücke ich die virtuelle Kamera und mache Schnappschüsse von meinen Abenteuern im Norden.
Wuchtiger Klingentanz
Verbessert hat man auch das Kampfsystem. Das war bereits im Vorgänger gut, aber mitunter noch etwas fummelig. Jetzt zückt man blitzschnell das Katana aus der Scheide, stürmt mit dem übergroßen Odachi auf große Gegner zu, reißt mit dem Kusarigama gegnerische Schilde nieder und hält sich mit dem Yari-Speer Gegner auf Distanz. Außerdem gibt es das Katana in der beidhändigen Ausführung (mein absoluter Favorit!), man bekommt einen Kurz- und Langbogen, eine Lunte und eine Pistole sowie zig kleinere Werkzeuge, wie Rauchbomben, Kunai und Metsubushi-Pulver zum Blenden von Gegnern.
Die vier Grundhaltungen zum Führen des Schwertes aus dem Vorgänger wurde durch das neue Waffen-Kontersystem ersetzt. Man kann sich das in etwa wie das Papier-Steine-Schere-Prinzip vorstellen. Das Katana ist ein guter Allrounder, mit dem Kusarigama durchbricht man Schilde, mit dem Doppel-Katana ist man mächtig gegen Stangenwaffen usw. Das System macht richtig Spaß, die Kämpfe ebenso. Und auf dem hohen Schwierigkeitsgrad habe ich die Auseinandersetzungen auch als angenehm knackig empfunden. Hier kommt es auf gut getimte Konter und Paraden an. Auch sollte man sich gerade in den ersten Spielstunden ganz genau überlegen, ob man sich in eine gegnerische Gruppe stürzt. Ist man umzingelt und kämpft mit einem Gegner, warten dessen Kameraden nämlich in der Regel nicht, bis man sich ihnen widmet. Da wird auch von der Seite her angegriffen, ob mit Hieb- und Stich oder auch Schusswaffen bzw. Pfeil und Bogen. Die Dynamik in den Kämpfen ist toll und erfüllt genau das, was das Spiel sein will: die ultimative Samurai-Fantasie.
Lo-Fi Beats und mehr Matsch
Bei aller Kritik um verpasste Gelegenheiten um real-geschichtliche Anknüpfungspunkte darf man eines nämlich nicht vergessen: Ghost of Yōtei ist in erster Linie ein Unterhaltungsprodukt. Es wäre schön, wenn dieses etwas mehr zu sagen hätte, ja. Aber als Entertainment funktioniert das Spiel hervorragend. Auch, da man erneut erkennt, wie sehr die Macherinnen und Macher auf Samurai-Fiktion abfahren. Der aus dem Vorgänger Kurosawa-Modus, welcher das Spiel in schwarz-weiß Optik einhüllt, ist wieder an Bord. Neu ist der Takashi Miike Modus, der mit mehr Blut und Schlamm sowie einen kleineren Bildausschnitt in den Kämpfen operiert. Der Modus lehnt sich vor allem an Miike´s 13 Assassins an und war die meiste Zeit über bei mir aktiviert. Und es gibt noch einen dritten Modus, welcher in Zusammenarbeit mit Shinichiro Watanabe (Samurai Champloo) entstanden ist und den Soundtrack kurzerhand mit Lo-Fi-Beats austauscht. Diesen habe ich aktuell im Endgame an und finde ihn albern wie spaßig zugleich.
Video zum Spiel
Pro & Kontra
- wuchtiges Kampfsystem mit vielen neuen Waffen und Möglichkeiten
- verschiedene Herangehensweisen im Kampf: schleiche ich oder kämpfe ich offensiv?
- spannend gestaltete Hauptmissionen
- wunderschöne offene Spielwelt, die sowohl visuell als auch akustisch brilliert
- es gibt in der offenen Welt viel zu entdecken, das Erkunden wird jedes Mal aufs neue belohnt
- Technisch top: butterweiche Performance, immersive Einbindung des Dualsense-Controllers
- einfache Rachestory, ohne etwas neues zu sagen
- Nebenstories und Nebenfiguren sind eine ganze Ecke schwächer ausgearbeitet, als im Vorgänger
- das Volk der Ainu ist zwar im Spiel vertreten, allerdings erfährt man nur wenig über sie
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