Re:Call REVIEW
Re:Call ist nach „Evan’s Remains“ bereits das zweite kommerzielle Spiel des argentinischen Indie-Entwicklers maitan69 (Matias Schmied). Re:Call wurde am 17. Januar 2023 auf Steam veröffentlicht. Das Spiel bietet kreatives Top-Down Adventure-Gameplay auf Basis von abwandelbaren Erinnerungen – zumindest in der ersten Spielhälfte. In der zweiten Hälfte pendelt der Titel nämlich eher in die Bereiche Stealth und Schalterpuzzle über, aber ich greife vor. Was das Spiel im Detail zu bieten hat, erfahrt ihr im folgendem Review.
Wie würdet ihr euch verhalten, wenn ihr plötzlich über göttliche Kräfte verfügen würdet?
Die Handlung von Re:Call dreht sich um eine mysteriöse, geisterhafte Entität welche die Eigenart hat ihrem jeweiligen Wirt die Fähigkeit der Erinnerungsmanipulation zu gewähren. Diese Fähigkeit kommt auch mit der Manipulation über Raum und Zeit daher und ist daher extrem mächtig. Zu Beginn des Spiels ist der muskelbepackte Dominik New-Order der Begünstigte dieser Entität. Dieser nutzt die überirdischen Fähigkeiten, um den örtlichen Drogenbaron umzupusten, welcher sich als exzentrischer Fotograf tarnt. Diese Bluttat geschah jedoch aus reinem Eigennutz, denn Dominik verfolgt ganz eigene dubiose Pläne. Durch diesen Mord büßt Dominik jedoch die Gunst der Entität ein. Diese wählt sich einen neuen Wirt in Form von Bruno Gallagher.
Bruno ist ein junger, verbitterter Mann, der seit seiner Kindheit unter Übergewicht leidet und seitdem Hohn, Spott und Mobbing über sich ergehen lassen muss. Auch dieser Tag beginnt mit einer Mobbing-Attacke seines ehemaligen Schulkameraden Lucas. Diese hat jedoch auch ihr Gutes, denn die ebenso reiche wie hübsche Henrietta Albarn, welche eigentlich nur Lucas abholen wollte, lädt Bruno spontan auf ihre nächste Gartenparty ein. Bruno, der insgeheim in Henrietta verschossen ist, überwindet seinen inneren Schweinehund und nimmt tatsächlich an der Party teil. Jedoch stößt er auch dort auf die altbekannte Ablehnung. Schlimmer noch wird Bruno Zeuge am Mord von Henriettas Vater. Eigentlich hat Bruno nicht viel mitbekommen, weswegen seine Zeugenaussage bei der Polizei nicht viel taugt. An dieser Stelle tritt die Entität auf den Plan und zwingt Bruno den Partyablauf zu wiederholen, mit dem Ziel den flüchtigen Mörder Dingfest zu machen. Hierfür kann Bruno freilich auf die vielfältigen Mächte der Erinnerungsmanipulation zugreifen. Der erste Einsatz dieser Macht ist die Schöpfung eines Freundes namens Harry Ocean, welcher Bruno fortan unterstützend zur Seite steht. Den Tod braucht der junge Mann auch nicht mehr zu fürchten, denn die Entität spult dann einfach wieder die Zeit zurück und lässt Bruno einen neuen Versuch starten. Dies geschieht so oft, bis die Entität mit dem Ergebnis zufrieden ist.
Doch das ist erst der Anfang, denn Dominik hat die Macht der Entität und seine Pläne keinesfalls aufgegeben. Außerdem stellt sich die Frage, was es überhaupt mit dieser seltsamen Wesenheit auf sich hat. Bruno weiß noch nicht, dass die kommenden Ereignisse drastische Konsequenzen auf die gesamte Welt haben können.
Re:Call bietet eine dieser Stories, die einen packen und nicht wieder loslassen, bevor man das Game durchgezockt hat. Zu stark ist der Drang zu erfahren, wo die Reise letztendlich hinführen wird. Erfreulicherweise klärt Re:Call die Mysterien dann auch relativ zurfriedenstellend auf. Perfekt ist die Handlung jedoch nicht. Man muss sich schon konzentrieren, um die Zusammenhänge nachverfolgen zu können. Aber auch wenn man dies macht, hat man das Gefühl, dass es hier entweder einige Logiklöcher gibt, oder gewisse Dinge nicht ausreichend erklärt wurden. Ferner gibt es ein paar Charaktere, die nicht ausreichend ausgestaltet wurden. Und Letzteres ist besonders schade, da die Charaktere in Re:Call ja eigentlich sehr abwechslungsreich und interessant porträtiert werden, und definitiv zu den Highlights des Spiels gehören.
Im Gegenzug überrascht das Spiel jedoch mit dem bemerkenswert kompetenten Umgang zum Thema Mobbing. Re:Call leistet einen eindringlichen Job den Spieler zu zeigen welche Qualen Mobbing-Opfer erdulden müssen, welchen negativen Einfluss dies auf die Leben der Opfer hat. Es zeigt aber auch, dass man sich diesen Qualen nicht hingeben darf und als Argument für unbegründeten Selbsthass oder Rache nutzen sollte, da dies der Weg zur Selbstzerstörung ist. Es zeigt sogar, dass sich die Täter ändern können, und dass deren Taten oftmals darauf fußen, dass diese ebenfalls Enttäuschungen erdulden mussten. Re:Call appelliert hier an die eigene Menschlichkeit und den Mut das Richtige zu tun. Ich kann nicht oft genug betonen, dass es das Spiel schafft dieses Thema mit dem gebürenden Respekt zu behandeln ohen die Dinge zu beschönigen. Ich hatte auch nicht erwartet, dass sich Re:Call derart stark dieses Themas annimmt. Großen Respekt dafür.
Gameplay-Identitätskrise ab der zweiten Spielhälfte
Das Gameplay von Re:Call ist leider recht inkonsistent. In der ersten Hälfte erwartet euch ein cleveres Adventure, welches seine Rätsel in erster Linie auf einem Geflecht aus Multiple-Choice-Entscheidungen aufbaut. So könnt ihr euch etwa entscheiden, ob der Mord Mittags, Nachmittags oder Abends stattfand, in welchen Raum der Mord stattfand, oder ob Bruno alleine oder mit einem Freund auf Henriettas Party aufkreuzt. Hier geht es darum die richtige Kombination auszutüfteln und auch zu verstehen, warum euch besagte Auswahl weiterbringen wird. Druck braucht ihr euch hierbei nicht zu machen, da bei einem unerfreulichen Ergebnis einfach die Zeit bzw. Erinnerung zurückgespult wird und man sooft probieren kann wie eben benötigt. Natürlich gibt es auch etwas reguläres Adventure-Gameplay wie der Dialog mit NPCs zur Informationsbeschaffung. Ein paar wenige Schlüsselgegenstände, die an richtiger Stelle weiterhelfen oder auch mal ein zu beschaffender Zahlencode. Der Kern ist jedoch die Verknüpfung der Multiple-Choice-Entscheidungen. Dieses Konzept funktioniert hier auch richtig gut und ist spaßig umgesetzt. Der Schwierigkeitsgrad ist hierbei meines Erachtens genau richtig ausgefallen. Nicht zu leicht, aber nicht zu schwer.
Hat man die ersten vier der insgesamt acht Kapitel gemeistert, baut das Spiel jedoch spürbar ab. Kapitel 5 wandelt das Spiel in ein Stealth-Game. Die Stealth-Mechaniken sind jedoch sehr simpel gehalten und gelangen nicht über die Komplexität von RPG-Maker-Stealth-Minigames hinaus. Tatsächlich hab ich schon Stealth-Passagen in RPG-Maker-Games gesehen, welche interessanter umgesetzt waren, als jene von Re:Call. Dem stets sichtbaren Sichtkegel der Feinde fernbleiben, Schatten nutzen um unentdeckt zu bleiben und in Wasser reinlatschen, um Geräusche zu produzieren, welche die Gegner anlocken. Nebenbei noch ein paar Bodenschalter bedienen um Wege zu öffnen und fertig. Immerhin hält sich der Schwierigkeitsgrad des Stealth-Levels in Grenzen, weswegen man relativ problemlos durchkommen sollte. Und zumindest wird Stealth bereits im ersten Kapitel angeteasert und kommt daher nicht völlig aus der Luft.
Kapitel 6 und 8 dienen eigentlich nur dem Handlungsfortschritt, was bleibt ist also Kapitel 7. Hier wird das Bodenschalter-Konzept aus Kapitel 5 auf die Spitze getrieben, wodurch sich dieser Spielabschnitt am ehesten wie ein Puzzlegame anfühlt. Man bekommt hier die Möglichkeit mehrere Charaktere zu steuern. Der Wechsel zwischen den spielbaren Charakteren wird, der Puzzlelastigkeit zu liebe, jedoch sehr umständlich gehandhabt, was diesen Spielabschnitt unangenehm zäh wirken lässt. Einige der spielbaren Charaktere dieses Kapitels kommen auch mit Spezialfähigkeiten daher, wie einem Gewehr, einem Röntenblick oder Dashmove. Doch das täuscht nicht über das Puzzle-Prinzip von Kapitel 7 hinweg.
Auf jedenfall ist diese Gameplay-Identitätskrise ab der zweiten Spielhälfte ziemlich ärgerlich und dürfte auf wenig Gegenliebe stoßen. Vor allem auch nicht deswegen, weil das Adventure-Gameplay der ersten Hälfte wirklich viel Spaß macht und mal was anderes ist, als die Prinzipien regulärer Point & Click-Adventures.
Re:Call bietet eine Spielzeit von ca. 7 Stunden, womit der stolze Preis von 19,50 € (Stand 14.07.2023) etwas schwer zu rechtfertigen ist. Es wird nur ein automatisch speichernder Saveslot geboten, jedoch bietet das Spiel als Alternative eine Kapitelanwahl.
Grafik und Sound
Im audiovisuellen Bereich sind die Gründe zu finden, warum ich das Spiel haben wollte. Die Top-Down-Grafik ist ganz hübsch gelungen. Sie ist farbenfroh koloriert und bietet einige interessante Effekte, die man bei Top-Down nur selten vorfindet. So werden die Randbereiche des Map-Ausschnitts verschwommen dargestellt und in den Wiederholungs-Sequenzen wird mit Scanlines und Pseudo-Grafik-Glitches gespielt. Bei den Charaktersprites fällt auf, dass diese ohne Arme dargestellt werden. Im generellen werden Sprites mit dicken schwarzen Umrissen gezeichnet. All das wirkt schon recht merkwürdig und ungewohnt, gewährt dem Spiel aber auch einen eigenen, unverwechselbaren Look. Es ist eben keine seelenlose Kopie von großen 16-bit-Vorlagen, sondern etwas eigenes.
Dasselbe gilt auch für das fantastische Charakterartwork. Die meisten Indie-Devs machen es sich hier leicht und emulieren den derzeit angesagten Anime-/Manga-Stil. Re:Call setzt hingegen auf einen eigenen Stil, der eher an so etwas wie Nickelodeon-Cartoons erinnert, nur mit dem Unterschied, das hier der Coolness-Faktor heftig aufgedreht wurde. Die Charakter-Artworks in den Dialogsequenzen sind einfach super! Obendrein werden variable Gemütsausdrücke für jeden Charakter verwendet. Es macht einfach sauviel Spaß das Artwork dieses Spiels zu betrachten!
Glücklicherweise wurde diese Finesse auch auf den Soundtrack übertragen. Es werden einige wirklich tolle Tracks geboten, welche die jeweiligen Themen wie Brunos Bitterheit oder die Intensität einer Mörderhatz sehr stark vermitteln. Am besten ist jedoch der Ending-Credits und Trailer-Song „The Maker.“ Ein äußerst launiger Rocksong mit akutem Ohrwurm-Faktor.
Die Soundeffekte passen ebenfalls, eine Sprachausgabe sowie eine deutsche Textübersetzung sucht man jedoch vergebens.
Pro & Kontra
- tolles Artwork
- starker Soundtrack
- sehr spannende Story mit guten Twists und coolen Charakteren
- gelungene Adventure-Spielmechanik auf Basis von Multiple-Choice Erinnerungs-Manipulation
- verliert ab der zweiten Spielhälfte die Gameplay-Identität
- die Stealth und Schalterpuzzle-Mechaniken der zweiten Spielhälfte sind nicht so interessant
- einige Aspekte der Handlung hätten besser erklärt werden können und wirken löchrig
- wackliges Preis- Leistungsverhältnis (19,50 € für ca. 7 Stunden Spielzeit)