Wolfenstein II: The New Colossus REVIEW
Ich kann mich noch ziemlich genau an meinen ersten Kontakt mit Wolfenstein erinnern. Ich war relativ frisch in der fünften Klasse und besuchte die Computer-AG meiner Schule, die mehr schlecht, als recht betreut und beaufsichtigt wurde. Beim gelangweilten Herumstöbern auf den mir zugewiesenen Rechner stieß ich schließlich auf einen Ordner mit verschiedenen, offenbar von anderen Schülern heimlich installierten Spielen – darunter auch das bis heute beschlagnahmte Wolfenstein 3D. Ein solches Spiel habe ich bis dato nicht gekannt! Vom Nationalsozialismus, den historischen Kontext und Hitler hatte ich damals noch recht wenig Ahnung, sehr wohl war mir aber bewusst, das ich hier etwas vor mir hatte, das nicht für meine Augen gedacht war. Der Reiz des Verbotenen, das stets nervöse Spielen in der Hoffnung, der Lehrer steht nicht plötzlich hinter mir und die für mich vollkommen neue Spielerfahrung haben sich in mein Gedächtnis eingebrannt. Im Traum hätte ich seinerzeit nicht daran geglaubt, das mich ein Ableger der Reihe einmal emotional aufwühlen, mir Gänsehaut und nonstop einen Kloß im Halse verpassen würde.
Eine Welt voller Gewalt
Der Moment des Todes. Was werden wir fühlen? Furcht? Erlösung? Frieden? Woran werden wir denken? An unsere Familie? Unsere Freunde? An die guten Dinge in unserem Leben? An die schlechten? Werden wir alleine sein? Steht uns jemand zur Seite? Die letzten Gedanken von William Blazkowicz gehören seiner geliebten Mutter. Es ist eine Erinnerung aus seiner Kindheit. Der junge William liegt in seinem Bett, nachdem er wieder einmal von seinem Vater grün und blau geschlagen wurde. Williams Mutter spendet ihrem Sohn Trost und zeigt ihm einen Ring, der sich seit vielen Generationen in der Familie befindet. Wenn William einmal die Eine gefunden hat, dann solle er ihr diesen Ring geben. William soll ein anderer Mann werden, als sein Vater.
Schnitt, Gegenwart. William ist schwer verwundet, ein körperliches Wrack. Seine Freunde versuchen das Leben ihres übel zugerichteten Kameraden zu retten. Überall Blut, der Blick schweift immer wieder ab. Die Gedanken verlieren sich, finden ihren Weg zurück in die Vergangenheit. Versteckt in einem Schrank erlebt William einen Streit zwischen seinen Eltern. Sein Vater ist außer sich vor Wut. William habe mit einem „Negermädchen“ rumgemacht. Die Mutter versucht ihn zu beruhigen, vergeblich. Als sie von ihrem Mann niedergeschlagen wird, springt William aus dem Schrank, versucht sich seinem Vater entgegenzustellen. Vergeblich. Es folgen weitere schreckliche Erinnerungen voller Gewalt und Brutalität. Sie ist allgegenwärtig in Wolfenstein II: The New Colossus.
Lauter Krach lässt William schließlich aus seinem Schlaf erwachen. Es war ein langer Schlaf, beinahe fünf Monate lag er im Koma. Wir schreiben das Jahr 1961. Es ist aber nicht das 1961 unserer Realität. Die Nazis haben Jahre zuvor den Zweiten Krieg gewonnen, die gesamte Erde unterjocht. William hat sie gejagt, zu Hunderten massakriert. Dafür jagen sie ihn und seine Freunde jetzt. Der Kampf geht weiter. Ebenso die Gewalt.
Sins of the fathers. And the mothers.
Das Motiv der (Erb-)Schuld ist allgegenwärtig in The New Colossus, wobei sie weniger im biblischen, als vielmehr im historischen und familiären Kontext verwendet wird. In dieser Geschichte sind es vor allem die Eltern, die ihre Schuld auf ihre Kinder übertragen und dadurch ihr Leben vorbestimmen. Das wird nicht nur an Protagonist B.J. Blazkowicz deutlich, sondern auch an Sigrun Engel, Tochter der aus dem Vorgänger bekannten und erneut auftretenden Irene Engel. Diese ist der wohl mit Abstand widerwärtigste Charakter, den ich je in einem Videospiel erlebt habe, die Personifizierung des absolut Bösen, grausam und martialisch. Sie jagt ihre Feinde mit sadistischer Freude, foltert und mordet aus puren Spaß. Selbst vor ihrer eigenen Tochter macht sie nicht halt, sie schämt sich wegen deren Fülligkeit, droht ihr mit Disziplinarmaßnahmen. Sigrun ist – wie William zu seinem Vater – das genaue Gegenteil ihrer Mutter, sie sagt sich los und schließt sich der Widerstandstruppe um B.J. an. Es ist bezeichnend, das sie ausgerechnet von einer schwarzen Frau fortlaufend als „Regimeschlampe“ beschimpft wird. Ihre Herkunft haftet an Sigrun. So sehr sie sich auch bemüht, die Taten ihrer Mutter und ihres Volkes überschatten sie. Diskriminierung kann von allen Seiten ausgehen und sie kann sich gegen alles und jeden richten.
The New Colossus ist ein in jeder Hinsicht bemerkenswertes Spiel. Spielerisch, wie narrativ. Die Rahmenhandlung selbst ist eigentlich kaum der Rede wert. Sie handelt vom Kampf einiger weniger gegen die unterdrückende Herrschaft der Nazis. Diese haben den Zweiten Weltkrieg gewonnen, ein global umspannendes Regime installiert, New York mittels einer Atombombe in Schutt und Asche gelegt und die USA zur Kapitulation gezwungen und sich infolgedessen einverleibt. Blazkowicz und seine Gruppierung setzen ihren im Vorgänger begonnenen Kampf fort und sammeln versprengte Widerstandskämpfer um sich. Sie wollen die Zukunft ändern, mit ihren Taten andere Menschen zur Revolution inspirieren. In Zeiten von Trump und AFD, in einer Gegenwart, in der offener Rassismus salonfähig geworden ist, in der Nazis und Ku Klux Klan unbehelligt auf die Straße gehen, agitieren und Geschichtsverdrehung vornehmen können wirkt der Inhalt des Spieles natürlich politisch enorm aufgeladen. Ob gewollt oder nicht, die Parallelen sind da, immer wieder sieht man sich mit Situationen und Szenen konfrontiert, die beängstigend aktuell wirken.
In den internationalen Spielfassungen dürfte dieses Gefühl umso eindrücklicher sein, in der deutschen Verkaufsversion hingegen sind es nicht die Nazis, sondern das Regime. Wie bei den Vorgängern wurden entsprechende Symbole abgeändert, ebenso wie Namen und Bezeichnungen. Das regt viele Spieler auf, in meiner Wahrnehmung hat es die Immersion aber nicht gebrochen. Ich weiß ja, was gemeint ist. Lediglich das Fehlen der englischen Sprachausgabe ist ärgerlich, aber verständlich, schließlich werden hier die Dinge beim Namen genannt. Somit muss man sich eben damit abfinden, dass alle Charaktere in der hiesigen Fassung deutsch sprechen – mal mit Akzent, mal ohne. Bedauerlich ja, aber man kann es nun einmal nicht ändern.
Menschliches Drama trifft Explotation
Ich kann gar nicht genug betonen, wie fulminant The New Colossus hinsichtlich seiner Narration und Charakterzeichnung ist, insbesondere, wenn man sich die Vergangenheit der Reihe vor Augen führt. Aus dem einst so einfach gestrickten Shooter wurde über die Jahre ein wahres Explotation-Fest, in B.J. nicht nur Nazis, sondern auch reihenweise Zombies und durch Experimente hochgezüchtete Supersoldaten umgenietet hat. Das aus Schweden stammende Studio Machine Games hat das Franchise vor drei Jahren mit The New Order nicht nur famos wiederbelebt, sondern dem Spiel gewordenen Trash eine weitere Ebene verpasst – eine zutiefst menschliche. Aus Blazkowicz – ursprünglich mal das Abziehbild eines Shooter-Protagonisten schlechthin – wurde plötzlich ein nachdenklicher, sensibler Charakter. Seine Begleiter waren ebenso fein skizziert, das Spiel und die Erzählung ließen sich ihre Zeit und erlaubten Nuancen, die der Reihe zuvor und vielen Videospielen im allgemeinen vollkommen fremd waren.
The New Colossus baut auf diesen Stärken auf, setzt direkt an das Ende des Erstlings an und übertrumpft den Reboot noch einmal. In den rund 15 Stunden, die ich in meinen ersten Durchgang investiert habe, habe ich gelacht, war einige Male tief berührt, habe laut aufgeschrien, war entsetzt. Gleichzeitig bleibt das Spiel der Serie treu und stilisiert sich abseits seiner ernsten Töne auch als absolutes Pulp-Feuerwerk. Wer dachte, der Trip auf den Mond im Vorgänger könne nicht mehr getoppt werden täuscht und erlebt hier ein geradezu wahnwitziges Aufeinandertreffen, gleichzeitig wird die brutale Tötung von Hunderten Nazis förmlich zelebriert und absolut absurde Elemente, wie Meter hohe Maschinensoldaten und Feuer speiende Roboter-Hunde werden wie selbstverständlich eingestreut.
Mein Leben!
In keinen Momenten zeigt sich die absurde Überspitzung so gut wie in den spielerischen. Erneut gibt Machine Games den Spielern ein zwar an die klassischen Shooter der 1990er Jahre erinnerndes, aber zu keine Zeit altbacken wirkendes Gameplay an die Hand. Außer dem Vorgänger und dem letztjährigen DOOM fällt mir kein anderer Singleplayer-Shooter der letzten Jahre ein, der sich so wuchtig, so befriedigend und so geschmeidig anfühlt, wie The New Colossus. Die stabilen 60 Frames auf der PlayStation 4 sind ein Genuss und spielen den brachialen Gefechten exzellent in die Hände. Nach einem Schusswechsel liegt das Areal dank teilweise zerstörbarer Level-Elemente in Trümmern, ist übersät vom Blut und Extremitäten der zuvor noch quicklebendigen Faschisten. Manchmal ist von diesen nicht einmal viel mehr als eine Lache mit Gekrösel übrig. Für zartbesaitete Naturen ist das sicherlich nicht das richtige Spiel.
Der direkte Schusswechsel ist aber nicht immer die beste Option. Der Schwierigkeitsgrad ist selbst auf der mittleren Stufe recht anspruchsvoll und in Anbetracht der meist großen Gegner-Truppen wartet der Todesbildschirm hinter jeder Ecke und springt flink hervor, sobald man die Kontrolle über die Situation verliert. Erschwerend kommt hinzu, das sich in den Reihen der feindlichen Gruppen oftmals ein oder mehrere Kommandanten befinden, die Alarm schlagen und Verstärkung herbeirufen können. Es bietet sich also an unentdeckt zu bleiben und die Feinde einzeln mit der stets griffbereiten Axt aus dem Weg zu räumen und den Kommandanten frühestmöglichst auszuschalten.
Linear, mit ein bisschen offen
The New Colossus ist in seinem gesamten Aufbau recht linear gestaltet. Unter anderem führt uns das Spiel diesmal in das vollkommen zerstörte New York, in das sich in einer ähnlichen Verfassung befindliche New Orleans, in die Innenstadt von Roswell, in der Nazis Seite an Seite mit Ku Klux Klan Anhängern patrouillieren, und an Bord eines U-Boots, welches gleichzeitig als Hub dient. In dieser kann man abseits der Missionen mit den Crew-Mitgleidern interagieren, sich an einem Schießstand üben und kleine Gefälligkeiten für die Mannschaft erledigen. Außerdem lohnt es sich Ausschau nach einem Arcade-Automaten zu halten, in welchen man „Wolfstone 3D“ spielen kann – wer kennt es nicht! Außerdem kann man vollkommen optionale Mordaufträge annehmen, in denen man Kommandanten des Regimes erledigen muss.
Die Level der Hauptmissionen sind einigermaßen offen gestaltet. Zwar gibt es stets nur einen Weg zum Missionsziel, allerdings gibt es immer wieder kleine Abzweigungen. Diese lohnt es sich durchaus zu erkunden, da man so neben zusätzlicher Munition und Rüstung auch Verstecke, Notizen, Postkarten und andere Aufzeichnungen finden kann. Eine normalerweise eher öde Art der Narration, im vorliegenden Fall sind die optionalen Texte aber dem gesamten Worldbuilding sehr zweckdienlich. So erfährt man etwa, was außerhalb der USA gerade geschieht, man erhält Informationen über die Struktur des Regimes, taucht in die Gedanken von Besatzer und Besetzten ein. Auch lohnt es sich immer wieder den Gesprächen der Gegner zu lauschen. Diese sind mal amüsant, mal etwas seltsam und tragen ebenfalls konsequent zur Stimmung bei.
John Woo wäre stolz
Das Missionsdesign ist meist einfach gehalten. Mal muss man sich den Weg zu einer Widerstandsgruppe durchkämpfen, mal eine handliche Atombbombe in eine feindliche Basis schmuggeln, mal ein Schauspielvorsprechen…nein, das findet ihr lieber selbst heraus. Im Kern bleibt The New Colossus all seinen Vorgängern treu und fokussiert sich auf seine Natur als Shooter. Dass dies nie langweilig wird, hat verschiedene Gründe. Etwa die sich ordentlich verhaltende K.I. Diese hat zwar immer mal wieder Aussetzer, ebenso verstecken sich die feindlichen Soldaten aber auch hinter Mauern und anderen Deckungen, sie schleichen sich an B.J. heran, werfen Granaten und kesseln den Spieler von verschiedenen Seiten ein. Auch die verschiedenen Level tragen zur hohen Abwechslung bei, nicht zuletzt ist es aber vor allem dem jederzeit befriedigenden Gunplay zu verdanken, das jeglicher Anflug von Langeweile im Keim erstickt.
Wie schon im Vorgänger kann man übrigens in bester John Woo Manier zwei Waffen gleichzeitig tragen und damit die Regimetruppen mit Dauerfeuer eindecken. Diesmal hat man außerdem die Option zwei unterschiedliche Waffen gleichzeitig tragen zu können. Etwas fummelig gestaltet sich dabei das Waffenrad, auch das die Zeit beim Wechseln der Waffen nicht anhält ist etwas eigenwillig gelöst und gerade in der Hitze des Gefechts ein häufiger Grund für mein verfrühtes Ableben gewesen.
Neu sind auch die drei unterschiedlichen Kampfmods, die man etwa nach der ersten Hälfte des Spiels erhält. Mit dem Schlachtenläufer kann man auf Knopfdruck Stelzen ausfahren und dadurch höhere Ebenen erreichen, mit den Pythongurten kann man sich hingegen durch enge Schächte schlängeln und aktiviert bei der Entdeckung durch einen Feind eine kurze Zeitlupe. Mit den Donnerfäusten kann man brüchige Mauern einschlagen und Granaten weiter werfen. Verbessern lassen sich außerdem die Waffen von B.J. Dazu muss man aber erst einmal die versteckten Upgrade-Kits finden, durch die man auf das Sturmgewehr etwa ein Visier setzen kann, den Pistolen einen Schalldämpfer aufsetzt oder der Schrotflinte zu noch mehr Durchschlagskraft verhilft.